Hat die Braunkohlenindustrie in Deutschland noch eine Zukunft?
Guido van den Berg MdL
ZUSAMMENFASSUNG
An eine Zukunft der Braunkohlen-Industrie in Deutschland glauben wenige. Unser Land hat doch schließlich eine Energiewende beschlossen. Und in deren Folge soll der energetische Einsatz von Braunkohle bekanntlich zurückgedrängt werden. Die aktuelle Bundesregierung hat sogar eine Kommission eingesetzt, die ein Ausstiegsdatum für Stein- und Braunkohle finden soll und sie hat hierzu 1,5 Mrd. € Strukturförderung in Aussicht gestellt. Also alles vorbei mit der Braunkohle? Geht es nur noch um Details, nur noch um sozialen Ausgleich, nur noch um Abwicklung? Wer verantwortlich handeln will, sollte ein wenig mehr nachdenken.
Schlagwörter: Braunkohlenindustrie; Chemie-Rohstoff; Energiepolitik; Kohlenstoffkreislauf; Kommission „Wachstum, Beschäftigung und Strukturwandel“; Stoffliche Kohlenutzung; Zukunft
1. Neue geopolitische Unsicherheiten müssen Energiepolitik verändern
Die Welt ist in Veränderung. Populisten sind vielerorts auf dem Vormarsch: Im Inland, in der Europäischen Union und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht nur Diktatoren wie in Nordkorea, sondern auch autokratische Machthaber in der Russischen Föderation oder in der Türkei verändern die geopolitische Lage. Es ist politisch blauäugig zu glauben, dass die Substanz der politischen Inhalte in Deutschland unangetastet bliebe, wenn sich Rahmenbedingungen für unsere Demokratien bedrohlich verändern.
Auch die Wirtschafts- und Energiepolitik wird neu herausgefordert werden. Wie fragil in Europa sicher geglaubtes geworden ist, kann man daran sehen, dass der Aufbau neuer Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union nicht ausgeschlossen er- scheint. Der Trend zum Freihandel, der offene Zu- gang zu Märkten und Rohstoffbasen, alles das was uns so selbstverständlich erschien, ist neu zu bewerten. Wer hätte gedacht, dass eine US-Administration die Nato in Frage stellen könnte? Wer hätte gedacht, dass Freihandel zwischen den USA und Europa gefährdet ist? Alles das ist Realität des Jahres 2018. Möglicherweise ist es ein Epochenwechsel, der Demokratie neu herausfordert. Es wäre naiv zu glauben, dass dies keine Auswirkungen auf unsere Politik haben wird.
Und auch unsere Energie- und Rohstoffpolitik muss dieser Neubewertung unterzogen werden. Wollen wir uns energiepolitisch von Erdgas aus Russland abhängig machen? Sind heimische Rohstoffbasen bedeutungs- und wertlos für unsere Wertschöpfung? Es wird Zeit klar herauszuarbeiten, dass die oft suggerierte Darstellung, ein kurzfristiger Ausstieg aus der Braunkohle sei überfällig und alternativlos, tat- sächlich mit großen technischen Herausforderungen für die Energie- und Klimapolitik, aber auch mit neu zu bewertenden Importabhängigkeit unserer Volkswirtschaft, verbunden ist.
2. Versorgungssicherheit wird physikalisch entschieden – nicht politisch
Lange gab es einen weitgehenden politischen Konsens, dass aus Gründen der Versorgungssicherheit in Deutschland nicht gleichzeitig aus Kernenergie und Braunkohle ausgestiegen werden kann. Mit dem er- kennbaren Nicht-Erreichen des Ziels einer 40%-igen Treibhausgasminderung bis 2020 gegenüber 1990 wird die These eines schnelleren Kohleausstiegs stark propagiert. Verschwiegen wird, dass dieses Klimaziel aus dem Jahr 2009 stammt – also vor dem Beschluss zum forcierten Kernenergieausstieg. Und verschwiegen wird, dass dem „Verfehlen“ des Klimaziels ein stärkeres Bevölkerungswachstum, ein stärkeres Wirtschaftswachstum und ein sich daraus ergebener gestiegener Energieverbrauch zugrunde liegt. Medial wird gerne auf die Braunkohle als größter Klimasünder verwiesen; Fakt ist aber, dass im Zeitraum von 1990 bis 2016 der CO2-Ausstoß an der Stromherstellung in Deutschland um 26% zu- rückgegangen ist. Die Braunkohle hat dabei einen überdurchschnittlichen Beitrag geleistet. Insbesondere die ostdeutschen Reviere haben gegenüber 1990 um die 40 % CO2-Emissionen eingespart. Kein anderer Sektor (Verkehr, Wärme-Wohnen, Landwirtschaft) und keine andere Region hat heute absolut mehr zur CO2-Reduzierung in Deutschland bei- getragen wie die Braunkohlenreviere.
Dennoch wird die Forderung nach Klimaschutz in diesen Tagen gerne auf die Braunkohle-Abschaltung reduziert: Höhepunkt waren die „Jamaika- Sondierungsgespräche“ von CDU, CSU, FDP und Grünen Ende 2017 mit der Behauptung, dass eine Stilllegung von sieben Gigawatt Kohlekraftwerken mit der Versorgungssicherheit vereinbar wäre. Dabei weisen die vier Übertragungsnetzbetreiber (Bericht zur Leistungsbilanz 2016 bis 2020 vom 31.10.2017) darauf hin, dass die sogenannte „gesicherte“ (also jederzeit verfügbare) Leistung mit dem Abschalten der letzten Kernkraftwerke Ende 2022 unter der Jahreshöchstlast liegen wird. Eine 100%-ige Versorgungssicherheit wäre damit nicht mehr geben. Der Szenariorahmen für den Netzentwicklungsplan Strom 2030 weist zudem darauf hin, dass in den nächsten 10 bis 15 Jahren das Problem aufgrund weiterer konventioneller Kraftwerksstilllegungen deutlich verschärfen wird: Für die Jahre 2030 bzw. 2035 ist dort eine verbleibende Leistung zwischen -14,5 und -25,8GW ausgewiesen. Grundlegend ist dabei auch, dass die lange als stabil angenommene Jahreshöchstlast von etwa 82GW wegen des steigenden Strombedarfs aufgrund von Sektorenkopplung mit steigender Elektrifizierung im Verkehrs- und Wärmebereich zu niedrig angenommen wurde. Aktuell erscheint eine Jahreshöchstlast von 90 bis 94GW realistisch.
Es ist also festzustellen, dass die Braunkohle im Gegensatz zu anderen Bereichen und anderen Regionen ihren Beitrag zu den Klimaschutzzielen geleistet hat. Wer die Energiewende erfolgreich betreiben will, muss endlich die Bereiche angehen, wo der Rückstand offensichtlich ist und darf das Thema nicht auf eine Stromwende reduzieren.
3. Preise sind für energieintensive Industrien entscheidend
Das Abschalten von Braunkohle könnte aktuell nur durch die Verfeuerung von Erdgas kompensiert werden. Gaskraftwerke würden damit an viel mehr Jahresstunden den Börsenstrompreis bestimmen. Bei aktuellen Gaspreise würde der Strompreis auf diese Weise um 15-20€/MWh ansteigen. Energieintensive Industrien sind in Deutschland für knapp ein Viertel des gesamtdeutschen Strombedarfs ursächlich. Diese Branche stellt Grund- und Werkstoffe her, die Ausgangspunkt für sehr viele Wertschöpfungsketten sind. Die Wirtschaftsvereinigung Metalle schätzt, dass sich ihre Strompreise bei einem vorzeitigen Ausstieg aus der Braunkohle um 15,7€/MWh und damit um etwa 56% erhöhen würden.
Im Rheinischen Revier hat der Energiebedarf für die Industrie eine besondere Bedeutung. Der Stromverbrauch pro in der Industrie Beschäftigtem ist in im Rheinland mit 83MWh höher als im Landesdurchschnitt mit 54MWh oder Bundesdurchschnitt mit 36MWh. Die Industrie- und Handelskammern haben erst dieses Jahr ermitteln lassen, dass der Anteil energieintensiver Industrien an der Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes 29% beträgt. Im NRW-Durchschnitt sind dies 21% und im Bundes- durchschnitt nur 15%. Wenn man die Wertschöpfung auf die Einwohnerzahl bezieht, so erreichen die energieintensiven Unternehmen im Rheinland einen Wert von 2.000€ pro Kopf, während der Durch- schnitt Nordrhein-Westfalens nur bei etwa 1.400€/Einwohner liegt.
Es ist zu erkennen, dass nicht nur die Chemie-, Aluminium- und Papier-Industrie von einer wettbewerbsfähigen Stromversorgung abhängig sind. Diese strompreisintensiven Industrien leiden ohnehin schon seit Jahren unter den im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hohen Stromkosten in Deutschland. In den sich anschließenden Wertschöpfungsketten wären sehr viele Produkte und Arbeitsplätze betroffen, was nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf. Die Industrie- und Handelskammern geben an, dass durch einen Umsatz von 100€ in energieintensiven Industrien im Rheinland, in NRW ein Umsatz von insgesamt 210€ ausgelöst wird. Das sind 110€ zusätzlich zum initialen Effekt. Bundesweit geht man von einer Wirkung von 250€ Umsatz aus. Eine Wertschöpfung von 100€ in energieintensiven Industrien des Rheinlandes, löst in NRW eine Wertschöpfung von insgesamt 270€ und bundesweit von insgesamt 350€ aus. Und eine Beschäftigung von 100 Personen in energieintensiven Industrien im Rheinland löst in NRW eine Beschäftigung von insgesamt 270 Personen sowie bundes- weit von insgesamt 350 Personen aus.
4. Neue Optionen nutzen: Braunkohle aus dem Feuer holen
Die bereits erfolgten politischen Beschlüsse zur Energiewende sind einerseits für die Bergbauunternehmen eine Herausforderung, mit rückläufigen Fördermengen zur Energieerzeugung langfristig – zu vernünftigen betriebswirtschaftlichen Bedingungen – die Verfügbarkeit der Braunkohle als Reserve für die erneuerbare Stromversorgung zu sichern.
Andererseits ist es eine Chance noch „klügere“ Nutzungsalternativen für den Rohstoff zu erkennen und zu entwickeln. Über die Nutzungsmöglichkeiten der Braunkohle jenseits des Strommarktes lohnt es sich nachzudenken. Das hat auch eine Expertenkommission des Landtags von Nordrhein-Westfalen erkannt, die überparteilich die Braunkohlen-Nutzung für die Chemie-Industrie empfohlen hat. Im Folgenden sollen einige Perspektiven dargestellt werden, bei denen Braunkohle als Rohstoff-Alternative für die Chemie interessant werden kann (vgl. Abb. 1). Zum einen ist zu beachten, dass Braunkohle ein wertvoller Träger von Huminstoffen ist, die für die Nutzbarmachung von kargen und sandigen Böden höchst wertvoll sind. Zum anderen ist der Kohlenstoff nicht nur energetisch, sondern auch stofflich nutzbar. Das heißt, man muss nicht CO2 daraus entstehen lassen, sondern kann den Kohlenstoff in Synthesegas umwandeln und in vielen Produkten unseres Lebens nachhaltig nutzen.
4.1. Mit Braunkohle Wüstenbildung bekämpfen und Gesundheit fördern
Der deutsche Begriff Braunkohle ist manchmal ein Problem. Er ordnet den Rohstoff den Kohlen zu, obschon jeder der Braunkohle einmal in den Händen gehalten hat schnell merkt, dass man die pflanzlichen Ursprünge des Stoffes fühlen und sehen kann. Im Englischen heißt „Braunkohle“ deshalb zutreffend „Lignite“, was auf das Lignin, das Holz verweist – ihren Ursprung. Das macht klar, dass die Inkohlungsprozesse bei diesem Rohstoff noch nicht abgeschlossen sind. Die wertvollen Bestandteile der Humusbildung in den damaligen Urwäldern, sind noch erkennbar und können „zum Leben erweckt“ werden. Es geht um die wertvollen Huminstoffe, die in der Natur heterogen verteil vorkommen und mit hochmolekularen Strukturen die Basis des Humusbodens bilden. In der Biologie gelten die unzähligen Prozesse im Humusboden noch als weitgehend unentdeckt. Klar ist, dass die Strukturen bislang durch den Menschen kaum nachhaltig nachgebildet werden können und Huminstoffe deshalb ein Schatz unserer Natur sind.
Chemie-Spezialunternehmen in Deutschland haben sich seit einigen Jahren auf den Weg gemacht, den Schatz der Huminstoffe, der in unserer Braunkohle gebunden ist, nutzbar zu machen. Die Firma Humintech beispielsweise nutzt das in der Braunkohle vor- kommende Leonardit als Bodenhilfsstoff bzw. -verbesserer. In einer Produktionsanlage in Grevenbroich entstehen seit Jahren erfolgreich Produkte, die welt- weit exportiert werden und gerade zur Reaktivierung karger oder sandiger Böden in Steppen interessant sind. Das Unternehmen Novihum hat es sich zum Ziel gesetzt, die Huminstoffe direkt aus Braunkohlenstaub bzw. Rohbraunkohle zu gewinnen. Die Demonstrationsanlage hierzu ist in Dortmund eingerichtet worden.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass etwa ein Drittel aller landwirtschaftlich nutzbaren Flächen der Erde von Bodendegradation bzw. von Desertifikation betroffen sind. Dies betrifft unmittelbar über eine Milliarde Menschen. Wäre es nicht ein gewaltiger Beitrag zu Nachhaltigkeit, wenn wir mit den Huminstoffen der Braunkohle die weltweite Desertifikation bekämpfen, die land- und insbesondere forstwirtschaftliche Produktivität steigern, Artenvielfalt sichern könnten, in dem wir helfen, die Verfügbarkeit von elementaren Ökosystem-Dienstleistungen zu steigern?
Ebendiese Huminsäuren zeichnen sich aber auch durch die Fähigkeiten aus, Schadstoffe zu binden, Haut und Schleimhäute zu schützen, die Verdauung zu fördern und die körpereigene Abwehr zu stärken. Sie binden Bakterien und Viren sowie deren Toxine, die mit ihnen auf natürlichem Weg ausgeschieden werden. Daher produziert das Pharmawerk Weinböhla bei Dresden kohlenstämmige Huminsäurenpräparate, die als Arzneimittel sowohl in der Hu- man- als auch der Veterinärmedizin Anwendung finden. So sind hochmolekulare Huminsäuren zur Therapie von Erkrankungen der Verdauungsorgane und Störungen des Stoffwechsels geeignet und dienen schon seit Jahrhunderten für balneologische Anwendungen (Moor-/ Schlammbäder). In der Tiermedizin werden sie zudem als Diät-Ergänzungsfuttermittel sowie als bewährter Tierfutterzusatz eingesetzt.
4.2. Braunkohle als Kohlenstoffträger für die Chemie-Industrie
Man muss den Kohlenstoff nicht zwangsläufig in CO2 umsetzen, sondern kann ihn auch thermochemisch als Rohstoff für die Chemie-Industrie nutzen.
Dieses Ziel verfolgt die Romonta GmbH in Amsdorf bei Halle. Hier werden aus Braunkohle die bituminösen Pflanzenbestandteile extrahiert und als Rohmontanwachs veredelt (vgl. HERTRAMPF et al. in diesem Heft). Der Einsatz dieses Produktes ist dabei besonders breit gefächert, von Schuhcremes und Polituren, über Schmierstoffe, Zuschlagemulsionen für die Bau-, Asphalt- und Gießerei-Industrie, bis hin zu Kosmetika, Lederpflege, Farben und Feingusswachse – nur um einige der Einsatzgebiete zu benennen.
Eine andere Nutzungsform ist die Umwandlung der Kohle bei hohen Temperaturen und einer eingeschränkten Menge Sauerstoff in ein Gasgemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid. Dieses Synthesegas kann dann als Universalwerkstoff für zahlreiche chemische Produktgruppen (z. B. Methanol, Ammoniak, Naphtha oder Methan) dienen. Die technischen Verfahren hierzu sind vor rund 100 Jahren in Deutsch- land entwickelt worden (Bergius-Pier, Fischer- Tropsch); durch die Basierung der chemischen Industrie auf das Importgut Erdöl nach dem zweiten Weltkrieg sind diese Möglichkeiten den heimischen Rohstoff nicht nur als Energieträger, sondern auch als Rohstoffträger zu sehen, in Vergessenheit geraten. In anderen Teilen der Welt hingegen keineswegs! Anwendungen gibt es in den USA und in Indien. Südafrika ist es so gelungen seinen Erdölbedarf zu großen Teilen durch heimische Rohstoffe zu substituieren und China hat das Ziel ausgegeben, seine chemische Industrie völlig unabhängig von Erdölimporten zu machen. Die größten technischen und kommerziell genutzten Anlagen zur Synthesegasherstellung aus Kohle stehen heute in China (Abb. 2).
Auch die Verkokung der Braunkohle unter Luftabschluss bei Temperaturen um 1.000°C zum sogenannten Herdofenkoks ist in diesen Reigen einzugliedern. Aktuell durch RWE produziert, eignet sich dieses Produkt als vielseitig einsetzbarer Filterhilfsstoff für umwelttechnische Reinigungssysteme von Müllverbrennungsanlagen und -deponien sowie metallurgische Recyclinganlagen. Zunehmend findet er auch Einsatz in adsorptiven Reinigungssystemen zur Rückhaltung einer breiten Palette emissionsrelevanter Schadstoffe (u. a. Schwefeldioxid SO2, Stick- oxide NOX und Schwermetalle) aus industriellen Rauch- und Abgasen sowie zur Trinkwassererzeugung und Abwasserreinigung. Darüber hinaus dient Herdofenkoks als Katalysator- und Filtermaterial zur stofflichen Aufarbeitung von Rückständen der Mineralöl-Industrie zu hochwertigen petrochemischen Rohstoffen und Euro-5-Diesel (sog. „Koksaktivat“).
4.3. Stoffliche Nutzung als kluger Beitrag zur Sektor Kopplung
Wenn man wirklich Sektor übergreifend denkt, kann die Energiewende in Deutschland jetzt zur großen Chance werden, die Braunkohle in höheren Wert- schöpfungsebenen zu veredeln und gleichzeitig CO2 zu sparen. Wieso? Während bei der Verbrennung zur Stromerzeugung 100% des Kohlenstoffs zu CO2 gewandelt werden, kann bei der stofflichen Kohlenutzung etwa die Hälfte des Ausgangskohlenstoffs in den erzeugten Chemikalien gebunden werden. Folglich sinken im Vergleich zur Kohleverstromung auch die CO2-Emissionen um etwa 50%.
Wenn die erneuerbaren Energien, wie politisch gewünscht, bis 2050 mehr als 80% der Stromproduktion abdecken sollen, so müssen bisherige Unzuverlässigkeit für die Bedarfsdeckung gelöst und Speichermöglichkeiten entwickelt werden. Nach heutiger Erkenntnislage bieten sich vor allem chemische Großspeicher an. Wenn hier Elektrolyse und Wasserstoff eine Rolle spielen, wäre das ideal für die Veredlung der Braunkohle. Durch Einkopplung von CO2-emissionsfrei erzeugtem Wasserstoff kann bis nahezu 100 % des Kohlenstoffs aus der Kohle in den chemischen Produkten gebunden werden. Es wäre damit möglich, bei der stofflichen Kohlenutzung „0“-CO2-Emission zu erreichen.
4.4. Schwefelfreie Optionen für Flugbenzin entwickeln
Braunkohle enthält momentan im Vergleich zu flüssigen und gasförmigen Kohlenstoffquellen relativ viel Sauerstoff und Kohlenstoff – jedoch wenig Wasserstoff, sodass sich primär erst einmal Produkte mit ähnlicher Verteilung dieser Stoffe (wie z. B. Ameisen- oder Essigsäure) anbieten. Mit der Verfügbarkeit von Wasserstoff aus sogenannter „erneuerbarer Überschussenergie“ steigern sich die Ein- satzpotenziale in anderen Stoffgruppen (z. B. Propylen, Ethylen). Zudem muss man den strategischen Vorteil betrachten, dass aus der Braunkohle im Vergleich zum Erdöl sehr schwefelarme Produkte er- zeugt werden können.
Schwefelfreie Produkte sind gerade für die Vermarktung von synthetischem Diesel bzw. Kerosin ein wichtiges Argument. Die Firma Clean Carbon Solutions aus Berlin will mit speziell abgestimmten eisenbasierten Katalysatoren deutlich höhere Kraftstoffausbeuten erzielen und langfristig sogar CO2/H2-basierte Kraftstoffe wettbewerbsfähig machen. Diese Entwicklungen sind vielversprechend, da für bestimmte Transport-Anwendungen wie Schwerlastverkehr, Schiff- oder Luftfahrt auf mittlere Sicht noch nicht erkennbar ist, wie deren Herausforderungen durch eine klassische E-Mobilität begegnet werden kann.
4.5. Neue Kohlenstoff-Kreisläufe mit Biomasse und Kunststoffen aufbauen
Wichtig zu sehen ist, dass die Synthesegaswandlung nicht nur mit Braunkohle funktioniert, sondern auch andere biogene Einsatzstoffe genutzt werden können. Die Technologie bietet den Einstieg in eine Bioökonomie unter der Nutzung nachwachsender Rohstoffe der zweiten oder dritten Generation. Der CO2-Minderungseffekt der Biomasse ist hier doppelt so hoch wie bei der Verbrennung. In Verbindung mit der Einkopplung von Wasserstoff könnte die Nutzung von Biomasse mit diesen Technologien im besten Fall sogar zu einer CO2-Senke führen.
Und ein weiteres Tor kann weit aufgestoßen werden: Bislang verwerten wir unsere Kunststoffabfälle fast ausschließlich thermisch. Das, was wir mühsam zu Propylen oder Ethylen gewandelt haben, wird also nur verbrannt und es entsteht wieder CO2. Die Synthesegaswandlung wäre auch ein effektiver und realistischer Einstieg in den Aufbau eines Kunststoff- Kreislaufs, der die Importabhängigkeit von Erdöl und Erdgas für die produzierende Industrie mindern kann – zumal aufwendige Sortentrennungen entbehrlich sein könnten.
Eine CO2-arme Braunkohlenutzung kann zudem den in den Braunkohlerevieren gefürchteten Strukturbruch abwehren, da die Versorgungssicherheit für die unsicheren Erneuerbaren Energien zunächst weiter gewährleistet und gleichsam das Ziel einer starken Reduktion der Kohleverbrennung verfolgt wer- den kann. Langfristig öffnet der Technologiepfad auch die stoffliche Nutzung von Biomasse für die Chemie und die Chance zur wirklichen stofflichen Nutzung von Kunststoffabfällen.
5. Überparteiliche Expertenkommission des NRW-Landtags zeigt Wege auf
2013 hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen eine Enquetekommission aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft eingesetzt, die die Zukunft der Chemie- Industrie in NRW untersuchen sollte. Im Rahmen dieser Arbeit widmete sich die Kommission auch intensiv der Frage, inwieweit eine stoffliche Nutzung von Braunkohle ein nachhaltiger Beitrag zur Entwicklung der Industrie sein kann. Über alle Fraktionen des Parlaments hinweg kam die Kommission 2015 zu dem einstimmigen Votum, dass die Umwandlung der Braunkohle in Synthesegas mit einer Pilotanlage gefördert und einer Forschungsbegleitung unterstützt werden sollte. Diese überparteiliche Positionierung ist wertvoll, denn auch die 2017 neu gewählte NRW-Landesregierung aus CDU und FDP stellte in ihrem Koalitionsvertrag heraus, dass sie die Empfehlungen der Kommission umsetzten will.
6. Neuer NRW-Lehrstuhl für „Carbon Sources and Conversion“ geschaffen
Am 22. März 2017 konnten die ersten konkreten Umsetzungsschritte gefeiert werden: Im Innovationszentrum Kohle im rheinischen Bergheim-Niederaußem besiegelten das Land Nordrhein- Westfalen, die Ruhr-Universität Bochum, das Fraunhofer Institut Umsicht aus Oberhausen und die RWE AG die Gründung der Stiftungsprofessur „Carbon Sources and Conversion“. Gleichzeitig wurde ein Katalyse-Teststand „Fabiene“ in Betrieb genommen (Abb. 3), der von der RWE AG gemeinsam mit der Technischen Universität in Darmstadt und der ThyssenKrupp Industrial Solution AG entwickelt und vom Bundeswirtschaftsministerium im Rahmen der anwendungsorientierten Verbundforschung „Cooretec“ gefördert wurde.
7. Braunkohlereviere in Ost und West können Innovationsmotor für industriellen Kohlenstoffkreislauf werden
Nun geht es darum, in Deutschland gemeinsam die richtige Aufstellung für das komplexe Thema zu finden. Aber auch hier ist der erste Schritt bereits gemacht. Unter Führung der Fraunhofer Gesellschaft hat sich im Jahr 2017 die Initiative Kohlenstoffketten für den Strukturwandel Braunkohle „IK2“ gegründet. Insgesamt fünf Fraunhofer Institute wollen in den kommenden zehn Jahren angewandte Forschungen bis zum Demonstrationsmaßstab nutzen, um Prozessketten im Industriemaßstab aufzubauen. Ein besonderer Treiber ist das Institut für Energieverfahrenstechnik und Chemieingenieurwesen der Technischen Universität Bergakademie Freiberg in Sachsen mit Prof. Bernd Meyer an der Spitze. Alle Akteure motiviert einerseits, dass bei der Nutzung heimischer Kohlenstoffquellen für die Produktion (z. B. für Kunststoffe, Schmierstoffe und Treibstoffe) die gesamte Wertschöpfungskette im Inland liegen würde. Das diversifiziert die Rohstoffbasis unserer Produktion, ist positiv für die Beschäftigung und stärkt den Industrie- und Wissenschaftsstandort nachhaltig. Andererseits wird aber auch erkannt, dass die Technologien eine weltweite Relevanz haben, sowie im Export effiziente und klimagerechte Produktionslösungen für viele globale Akteure an- geboten werden könnten.
8. Mut haben, die Ausstiegs- zu einer Einstiegskommission zu machen
Wenn die Kommission „Wachstum, Beschäftigung und Strukturwandel“ Verantwortung im Sinne ihrer Namensgebung erfüllen will, muss sie vor allem eines erfüllen: Sie muss wegkommen vom Image einer Kohle-Ausstiegs-Kommission. Und sie muss hinkommen zu einer Einstiegs-Kommission für neue technologische und regionalwirtschaftliche Innovationen. Die Bedeutung der Braunkohle für Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie macht klar, dass man ihr weiteres Zurückgehen im Energiemarkt mit Augenmaß vornehmen muss, wenn man nicht unübersehbare ökonomische Schäden in weiten Wertschöpfungsketten auslösen will. Und es wird Zeit, den Rohstoff wieder als das anzunehmen, was er ist: ein Bodenschatz. Und dem kann man noch klügere Dinge anstellen, als nur Wasser zu erhitzen. Die Kommission sollte daher die stoffliche Nutzung der Braunkohle als wesentlichen Innovationsfaktor-Faktor für die erfolgreiche Gestaltung des Strukturwandels in den Braunkoh-lerevieren definieren und ausbauen.
Deutschland verantwortet rund 2% der weltweiten CO2-Emissionen. Wenn Deutschland heute komplett aus der Braunkohle ausstiege, könnten die Emissionen theoretisch um etwa 0,3% sinken. Dies wäre tatsächlich nur theoretisch, da die Einbindung Deutschlands in den europäischen CO2- Zertifikatehandel sofort dazu führen müsste, dass andere EU-Länder entsprechend mehr verbrauchen können, wenn nicht gleichzeitig freiwerdende Zertifikate stillgelegt werden. Das offenbart, dass Aktionismus wenig hilft. Es geht um die klügsten und wettbewerbsfähigsten Produktionsalternativen des 21. Jahrhunderts, um die wir uns in Deutschland als Ingenieurland kümmern sollten. Nur wenn wir da überzeugendes liefern, werden uns andere Länder der Welt im Klimaschutz folgen. Die Braunkohlereviere können deutlich machen: effektiver Klimaschutz, innovative Produktionsimpulse und längerfristige Planungssicherheiten müssen sich nicht aus- schließen. Was man dafür aufgeben muss, sind vereinfachte Sichtweisen, die in Braunkohle nur einen Energieträger sehen. Braunkohle kann als intelligenter, CO2-armer Rohstoffträger genutzt werden.
Zum Autor
Guido van den Berg (geb. 1975) absolvierte sein Studium der Volkswirtschaft und Politikwissenschaft in Köln und Duisburg als Diplom-Sozialwissenschaftler. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Nachdem er von 2004 bis 2007 als kaufmännischer Angestellter in einer Unternehmensberatung bei Köln tätig war, wechselte er 2008 als persönlicher Referent von Franz Müntefering im Deutschen Bundestag nach Berlin. Von 2010 bis 2012 arbeitete er im Ministerbüro des Innenministers des Landes Nordrhein- Westfalen in Düsseldorf. Seit 2012 ist er Abgeordneter des NRW-Landtags. Er war von 2013 bis 2015 Sprecher für die SPD in der Enquetekommission zur „Zukunft der chemischen Industrie in NRW“. Zudem ist er seit 2014 stellvertretender Landrat des Rhein-Erft-Kreises, der stark vom Strukturwandel im rheinischen Braunkohlenrevier betroffen ist. Seit 2017 ist er Ehrenbergmann der Technischen Universität Bergakademie Freiberg in Sachsen und Sprecher der SPD-Landtagsfraktion NRW im Landtags-Unterausschuss für Bergbausicherheit.
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